Die Umstellung auf Elektromobilität stellt auch die fertigende Industrie vor große Aufgaben, was die Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitenden angeht: Wie kann es Unternehmen gelingen, eine große Zahl von neuen Mitarbeitenden entlang der Fertigungslinien der entstehenden Batteriezell-Gigafactories effizient einzulernen? Wie können wir sicherstellen, dass Expertenwissen nicht nur in den Köpfen einer weniger Menschen vorhanden ist, sondern transparent allen zur Verfügung steht? Im Rahmen des Projekts Europäisches Lernlabor Batteriezelle der Fraunhofer-Einrichtung Forschungsfertigung Batteriezelle FFB entsteht aktuell ein produktionsnahes Smart-Learning-System direkt an den Fertigungslinien in Münster. Hierbei wird eine Software entwickelt, die die Mitarbeitenden während der Lernprozesse bei ihrer tagtäglichen Arbeit unterstützt. In diesem Beitrag erfahren Sie von den Autor*innen Franziska Purr (Fraunhofer Academy), Gregor Engelmeier und Thomas Flum (Equeo GmbH), was sich hinter Smart Learning verbirgt – und was der Plan für das Projekt ist.
Was bedeutet Smart Learning für uns?
Für das Projekt Smart Learning direkt an der Fertigungslinie arbeitet die Fraunhofer Academy mit der equeo GmbH aus Berlin zusammen. Equeos Philosophie basiert auf langjährigen Erfahrungen mit dem Einsatz von digitalen Schulungsmitteln im betrieblichen Alltag. Aufgrund dieser Erfahrungen haben sie beschlossen, eine andere Herangehensweise zu wählen, als sie in der Regel im eLearning zu finden ist. Dieses Konzept heißt Smart Learning.
Während bei vielen herkömmlichen eLearning-Ansätzen die Verwaltung des Lernprozesses in Organisationen im Vordergrund steht und Lernen „auf Vorrat“ stattfindet, konzentriert sich unser Projekt darauf, den optimalen Moment für das Lernen zu finden. Der optimale Moment ist der, in dem die Lernenden das angebotene Material mit der ganz praktischen Situation, in der sie sich gerade individuell befinden, verbinden können.
Ein Beispiel, wie das aussehen kann: Eine Person soll lernen, eine Produktionsanlage für ein Experiment einzurichten. Dafür präsentieren wir ihr nicht zuerst eine lange Erklärung aller möglichen Konfigurationsparameter der Anlage, sondern konfrontieren sie mit der Aufgabe und geben zum relevanten Zeitpunkt genau die Informationen, die benötigt werden. Besonders geeignet sind Momente, in denen etwas schief geht, wie beispielsweise Fehlermeldungen an Maschinen: Jetzt präsentieren wir zunächst praktische Hilfen („Rezepte“) zur Behebung des Fehlers. Anschließend – wenn sich die Lernenden nicht mehr in der mit Stress verbundenen Fehlersituation befinden – erhalten sie Hintergrundwissen über Ursachen und Möglichkeiten, solche Fehler präventiv zu vermeiden. So können Lernende das Wissen einordnen und mit der erlebten Praxis verknüpfen. Wir nennen dies auch „situiertes Lernen“.
Natürlich müssen wir insbesondere sicherstellen, dass alle Informationen und Inhalte, die gelernt werden sollen, auch präsentiert werden. Zum Beispiel bei der Einarbeitung von Mitarbeitenden. Dies geschieht durch Lernpfade, die sich immer wieder an die konkreten Erfahrungen der Lernenden anpassen und während des Vermittlungsprozesses dynamisch berechnet werden. Bei der Neuberechnung fließen auch die Lernerfahrungen anderer Nutzer*innen ein, die die Inhalte einerseits explizit bewerten und andererseits durch ihr Nutzungsverhalten implizit Hinweise auf deren Relevanz geben können.
Warum passen Smart Learning und Batteriezellfertigung so gut zusammen?
Unser Ziel ist es, mit einem produktionsnahen Smart-Learning-System die Kompetenz von heutigen und künftigen Batterie-Expert*innen auf- und auszubauen. Das Hochfahren vieler neuen Gigafactories in Europa stellt die Industrie vor eine große Herausforderung: Es gilt, viele neue Mitarbeitende schnell und umfassend anzulernen, unabhängig von ihren vorherigen Erfahrungen und Fähigkeiten. Mit einem produktionsnahen Smart-Learning-System kreieren wir eine effiziente Lösung für die Schulung vieler vor allem neuer Mitarbeitender.
Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass dieses System Dozent*innen nicht ersetzt, sondern diese bei wiederkehrenden Aufgaben unterstützt. So können neue Mitarbeitende schneller und effektiver angeleitet werden, ohne dass immer Expert*innen für häufig wiederkehrende Fragen verfügbar sein müssen. Dies ermöglicht eine effektive Verbreitung des Wissens über den Fertigungsprozess und eine schnellere Einarbeitung von neuen Mitarbeitenden.
Wie soll Smart Learning konkret in der Realität aussehen?
In erster Linie konzentrieren wir uns auf die Aus- und Weiterbildung der FFB-Mitarbeitenden an den Fertigungslinien. Allerdings hat Weiterbildung hier einen viel breiteren Fokus als in einer „normalen“ Produktion. Unsere Aufgabe ist es, eine Infrastruktur zu schaffen, die einen Kernprozess der FFB effizient unterstützt: Die Produktion von neuem Wissen!
Dazu planen wir, alle Mitarbeitenden mit einem „Companion“ auszustatten, der im Produktionsalltag bei der Produktion von Wissen unterstützen soll. Wir denken dabei an ein Tablet mit einer auf diese Aufgabe zugeschnittenen App. Der Companion „weiß“ nicht nur, wie der Wissensstand der Person ist, sondern erkennt auch die konkrete Situation, in der sie sich gerade befindet. An welcher Anlage wird aktuell gearbeitet, wie ist der Betriebszustand der Anlage, gibt es besondere Vorkommnisse, für deren Bearbeitung die Person neue Informationen benötigt? All diese und weitere Informationen aus der Umgebung sind relevant, um in der Situation die richtigen Inhalte „auf dem Tablet“ zu servieren.
Die Mitarbeitenden werden aber nicht nur bei dem Erwerb von Wissen unterstützt, sondern auch bei der Erstellung neuer Inhalte, wenn es gilt, das implizite Wissen aus den Köpfen der Expert*innen explizit zu machen.
Wie sieht nun die Arbeit mit dem Companion genau aus? Stellen wir uns eine Mitarbeiterin – nennen wir sie Hanna – vor, die in die Arbeit am Beschichter eingewiesen wird. Sie hat sich bereits bei der Anlage „eingecheckt“, so dass ihr Companion nun „weiß“, dass sie sich jetzt vor allem für Informationen zu diesem Prozess interessiert. Die Kameras der Qualitätskontrolle an der Anlage erkennen plötzlich Unregelmäßigkeiten im Beschichtungsprozess. Hanna wird sofort von ihrem Companion darüber informiert und erhält gleichzeitig eine Liste mit Informationen zur Fehlerbehebung.
Gleichzeitig wird sie aufgefordert, den Prozess der Fehlerbehebung mit Hilfe des Companion zu dokumentieren, damit daraus von der Content-Redaktion neues Material erstellt werden kann. So können andere am Beschichtungsprozess interessierte Anwender*innen von diesen Erfahrungen profitieren. Die Content-Redaktion aktualisiert mit diesen Erfahrungen auch die Checklisten zur Fehlervermeidung und -behebung und sorgt dafür, dass neues Material schnell auffindbar ist.
Erst nachdem Hanna den Produktionsbereich verlassen hat und sich beispielsweise in einem Community-Bereich befindet, erhält sie von ihrem Companion fortführende Inhalte. Diese helfen ihr, die Ursachen des Problems zu verstehen und in Zukunft zu vermeiden.
Der gesamte Prozess der Rezeption und Produktion der Inhalte wird über Nutzerbewertungen rückgekoppelt, so dass die Praxisrelevanz der Materialien auch langfristig sichergestellt werden kann.
Wie wollen wir das Projekt umsetzen?
Die Herausforderung bei diesem Projekt ist, dass es um mehr geht, als nur ein „Lernsystem“ zu liefern: Wir müssen – in Abstimmung mit den anderen Arbeitsgruppen der beteiligten Partner – eine durchgängige Architektur finden, in die alle wissensgenerierenden Systeme (seien es physische wie Produktionsanlagen oder Software wie Datenbanken) einfach integriert werden können. Zudem ist es erforderlich, dass sich diese Informationsstruktur den Nutzer*innen in einfacher Form zur Verfügung stellen lässt. Wir nennen das – vielleicht etwas hochtrabend – eine „cyber-physical-fabric“, mit der wir den Wissensprozess in der Praxis unterstützen wollen.
Im Augenblick sind wir in der Konzeptionsphase, in der die ersten Ideen abgestimmt und in Form von Konzeptstudien (Proof of Concept) erprobt werden. Gleichzeitig lernen wir die anderen Arbeitsgruppen des Projektes kennen und können mit ihnen die besten Möglichkeiten zur Umsetzung des Systems diskutieren.
Ein wichtiger Teil der Konzeptionsphase ist die Entwicklung von Ideen, wie wir die Mitarbeitenden befähigen können, selbst zu aktiven Wissensproduzent*innen zu werden. Deshalb arbeiten wir verstärkt mit Prototypen und Mockups, die dann mit den Praktiker*innen an der FFB diskutiert werden. Denn das schönste System nutzt nichts, wenn es später nicht angenommen wird. Wir wenden Methoden des User Centered Design an. Dabei hilft uns unsere langjährige Erfahrung mit Storytelling-Methoden und agiler Methodik, die wir hier flexibel einsetzen.
Welche Herausforderungen müssen wir meistern?
Das Smart-Learning-System ist ein Projekt im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion, wodurch eine Reihe von Herausforderungen gemeistert werden müssen.
Zunächst ist es enorm wichtig, dass die Technologie einfach und intuitiv anwendbar ist, um die Akzeptanz bei den Lernenden zu erhöhen. Im Bereich der Batteriezellfertigung gelten spezifische technische Anforderungen, die zu berücksichtigen sind, um eine optimale Integration zu ermöglichen. Der Umgang mit Rein- und Trockenräumen sowie das Handling chemischer Substanzen mit Handschuhen sind hier zwei Situationen, die intelligent gelöst werden müssen. Hier ist es wichtig, dass die Lerntechnologien klug eingesetzt werden, um die Nutzer*innen nicht mit zusätzlichen Herausforderungen zu konfrontieren, sondern sie bei der täglichen Arbeit zu unterstützen.
Eine neue Technologie muss von den Nutzer*innen angenommen werden, damit sie erfolgreich implementiert werden kann. Dies wird unter anderem eine gründliche Kommunikation sowie Schulung der Nutzer*innen erfordern. Ein Weg dazu den wir wählen, ist die frühzeitige Einbindung von Lead Usern in die Entwicklung.
Nicht zuletzt ist es herausfordernd, dass implizite Expertenwissen der erfahrenen Fachexpert*innen zu erfassen und zu vermitteln, was für eine erfolgreiche Interaktion zwischen Mensch und Maschine enorm wichtig ist. Um diese Herausforderung meistern zu können, streben wir im Projekt die Stärkung eines offenen und transparenten Mindsets der Nutzer*innen des Systems an.
Warum ist die FFB ein geeignetes Testobjekt?
Die Fraunhofer-Einrichtung Forschungsfertigung Batteriezelle FFB am Standort Münster ermöglicht die Erforschung einer nachhaltigen, effizienteren sowie günstigeren Batteriezellproduktion in höherer Qualität. Durch die Bereitstellung einer Forschungs-Infrastruktur im Gigafactory-Maßstab können kleine u. mittlere Unternehmen sowie Großunternehmen und Forschungseinrichtungen die seriennahe Produktion neuer Batteriezellen testen.
Als „gläserne Fabrik“ ist es an der FFB möglich, hinter die Kulissen zu schauen und Batteriezellfertigung hautnah mitzuerleben. So bietet die FFB mit ihren Hochskalierungen von »FFB Workspace« zu »FFB PreFab« und »FFBFab« eine ideale Testumgebung für die Erarbeitung des Smart-Learning-Systems.
Der Kontext der FFB ist durch die datenreiche Umgebung, die viele Signale für neue Lernanlässe generiert, besonders gut geeignet. Da in der FFB ständig Neues erprobt wird, werden auch ständig Veränderungen am Produktionsprozess vorgenommen. Dabei treten immer wieder Situationen auf, die es so vorher nicht gab und die es nun zu bewältigen gilt. Wir versuchen den Lernenden über das Smart-Learning-System dafür das vorhandene Wissen für die gegebene Situation zu präsentieren und sie in die Lage zu versetzen, selbst neue Inhalte zu erschaffen.
Darüber hinaus bietet die Zusammenarbeit mit weiteren Forschungsteams der FFB zu Themen wie KI in der Produktion, Digitaler Zwilling oder Data Acquisition große Potentiale und ermöglicht es, das Smart-Learning-System in die digitale Infrastruktur der FFB einzubetten. Die FFB befindet sich aktuell noch selbst im Aufbau und bietet daher eine für unser Smart-Learning-System passende Testumgebung. Das Anlernen neuer Mitarbeitender sowie die kontinuierliche Aus- und Weiterbildung der Mitarbeitenden vor Ort in Münster spielt eine elementare Rolle. Deshalb ist es schlüssig, ein Smart-Learning-System genau hier einzubringen.
Weitere Informationen zur Batterieforschung und Weiterbildung:
Fraunhofer-Einrichtung Forschungsfertigung Batteriezelle FFB
ELLB – Europäisches Lernlabor Batteriezelle
- Unser Beitrag gegen den Fachkräftemangel im Batteriesektor – Weiterbildung an der FFB
- Deutschland braucht mehr Batterieexpertise (fraunhofer.de)
Franziska Purr arbeitet seit Mai 2021 für die Fraunhofer Academy als Learning Professional im Geschäftsfeld Corporate Learning mit dem Fokus Batterietechnologie. Frau Purr absolvierte 2021 ihren Master of Science in Psychologie mit Fokus Wirtschaftspsychologie an der Eberhard-Karls Universität Tübingen. Während des Studiums sammelte Sie Erfahrungen in der Personal- und Organisationsentwicklung sowie im Change Management großer Industrieunternehmen. Zuletzt beschäftigte Frau Purr sich im Rahmen ihrer Masterarbeit am Forschungscampus ARENA2036 e.V. mit dem Thema Akzeptanz KI-basierter Technologien im Produktionskontext.