„Das Lernen im Mittelpunkt – nicht das Lehren“
Warum in der Weiterbildung nicht das digitale Format, sondern das Lernen über den Erfolg entscheidet, beschreibt Professor Dr. Andreas Groß, Leiter Weiterbildung und Technologietransfer am Fraunhofer IFAM im aktuellen Interview. Ein Gespräch über die Grenzen der Digitalisierung und ein Plädoyer für einen sinnvollen Mix aus Präsenz- und Online-Angeboten.
Herr Professor Groß, mehr als die Hälfte aller Fort- und Weiterbildungsangebote in Deutschland werden laut einer aktuellen Studie des deutschen Stifterverbandes bereits digital angeboten. Haben Präsenzveranstaltungen ausgedient?
Im Gegenteil! Nicht jedes berufliche Training funktioniert gleichermaßen als Online-Veranstaltung. Und wir müssen uns bewusst machen, dass nicht allein das digitale Format über den Erfolg von Weiterbildung entscheidet. Die Digitalisierung darf nicht zum Selbstzweck werden. Digitale Elemente sollten dort eingesetzt werden, wo sie für den Lernerfolg den bestmöglichen Mehrwert bieten. Nur wenn der Lernerfolg im Mittelpunkt steht, kann man eine Optimierung der Weiterbildung erreichen.
In welchen Fällen lassen sich Online-Weiterbildungen gut einsetzen?
Bei uns gilt die Faustregel: Je höher der Praxisanteil, desto weniger digitale Lehre. Anders ausgedrückt: Je höher der Theorieanteil, desto mehr digitale Blended-Learning-Elemente können gut integriert werden. Beispielsweise finden die Vorkurse der Kleblehrgänge am Fraunhofer IFAM seit jeher rein digital statt; die praktischen Schulungen selbst werden im Anschluss in Präsenz gelehrt.
Außerdem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Online-Weiterbildungen Reisezeit und –kosten sparen. So werden Angebote auch künftig attraktiv sein, wenn sie eine gute Vorbereitung oder Ergänzung zu Präsenzkursen darstellen.
Wo sehen Sie die Grenzen von digitalen Angeboten?
Trotz aller Digitalisierung findet die berufliche Umsetzung von Wissen oft analog statt. Auch hier wieder die personalqualifizierende Weiterbildung für Klebtechnik als übertragbares Beispiel: Dort vermitteln wir sicherheitsrelevantes Kleben für Branchen wie Luftfahrt, Schienenfahrzeugbau, Automobilbau oder Medizintechnik. Das funktioniert nicht auf rein theoretischer Ebene und nicht ausschließlich online – oder wie sollen Fachkräfte digital üben, eine Glasscheibe zu kleben? An diesem Beispiel wird schnell klar, dass Lernen unter praktischen Bedingungen im Lernlabor erlebt werden muss. Das können wir nur schwerlich digitalisieren.
Ob sich ein Kurs online durchführen lässt, hängt also allein vom Inhalt ab?
Nein, nicht nur das. In der beruflichen Weiterbildung haben Sie es oft mit sehr heterogenen Gruppen zu tun. Die Teilnehmenden kommen aus unterschiedlichen Branchen und Unternehmen, haben dort unterschiedliche Funktionen, bringen unterschiedliche Qualifikationen und Erfahrungen mit und sind in ihrem Lernverhalten unterschiedlich organisiert. Ein Lernerfolg der Teilnehmenden hängt bei Online-Weiterbildungen daher auch von der Online-Affinität und der Bereitschaft zum selbstorganisierten Lernen ab. Als Weiterbildungsanbieter muss ich besonders auf diese Lernunterschiede eingehen. Aus meiner Einschätzung wird es immer Teilnehmende geben, die Präsenz-Weiterbildungen bevorzugen.
Darüber hinaus ist nicht zu unterschätzen, dass sich die Fach- und Führungskräfte in den Präsenz-Weiterbildungen auf Grund der persönlichen Nähe vor Ort stärker untereinander austauschen und dabei „unstrukturiert“ voneinander lernen als in einer rein digitalen, zweidimensionalen und eher unpersönlichen Umgebung. Auch wenn digitale Kleingruppenarbeiten als Methode diesen Austausch fördern, ist der informelle gegenseitige Lernprozess virtuell nicht planbar. In Präsenz hingegen findet er aber kontinuierlich – quasi „nebenbei“ – statt.
Welche Rolle spielt demnach der Dozent oder die Dozentin?
Als Dozent im analogen Raum erkenne ich intuitiv und direkt, wer etwas wirklich verstanden hat, wer nur so tut, wer ratlos schaut oder abgelenkt ist. Darauf kann ich gezielt und individuell mit der passenden Methode direkt reagieren.
Als Dozent muss ich zusätzlich motivieren können – und zwar authentisch. Diese Authentizität schafft ein „programmiertes“ Lob, beispielsweise bei einer erfolgreichen Lernkontrolle, nicht.
Bei allem, ob analog oder digital, darf es aber nicht schwerpunktmäßig um das Lehren gehen. Das Lernen und der Lernerfolg müssen im Mittelpunkt stehen! Deshalb ist es so wichtig, auf unterschiedliche Lerntypen eingehen. Das geht nicht in einem aufgezeichneten Video und auch im Zoom-Meeting ist das nur begrenzt möglich. Auch deshalb sind in puncto Interaktivität und Flexibilität Präsenzformate für mich unschlagbar!
Außerdem möchte ich betonen: Lernen ist soziales Geschehen. Bei rein digitalisierten Weiterbildungen kommt mir die soziale Lern-Komponente zu kurz.
Werden Sie Ihre Online-Kurse am Fraunhofer IFAM also nicht weiter ausbauen?
Doch, auf jeden Fall! Beispielsweise sind gerade im internationalen Umfeld Präsenzformate mit hohen Reisekosten und –zeiten verbunden. Viele Arbeitgeber erwarten zudem zunehmend digitale Angebote zur Wissensvermittlung. Meiner Meinung nach darf die Digitalisierung allerdings nicht dazu führen, dass berufliches Lernen aus der Arbeitswelt vollständig in die Freizeit verlagert wird. Auch der bereits oben angeführte, wichtige informelle Austausch findet online deutlich weniger statt – wer trifft sich schon nach einer Online-Weiterbildung noch stundenlang privat im virtuellen Chatraum, wie man es beispielsweise im Hotelrestaurant machen würde? Blended-Learning-Formate mit reduziertem Präsenzanteil werden sicherlich zunehmen. Aber 100 Prozent Online ist für mich kein Zukunftsmodell!
Über Prof. Dr. Andreas Groß:
Der promovierte Chemiker und Pädagoge leitet den Bereich Technologietransfer und Personalqualifizierung des Fraunhofer Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM in Bremen. Außerdem ist er stellv. Sprecher des Direktoriums der Fraunhofer Academy. Die Weiterbildungseinrichtung der Fraunhofer-Gesellschaft entwickelt anwendungsorientierte, wissenschaftliche Weiterbildungsinhalte zu Themenfeldern wie Logistik, IT oder Fertigungs- und Prüftechnik.
Adem Salgin ist in der Academy seit Anfang 2017 im Bereich Lernlabor Cybersicherheit tätig und dort für das Veranstaltungsmanagement zuständig.
Adem Salgin beendete 2006 seine Fachhochschule im Bereich Wirtschaft. Anschließend absolvierte er seine Ausbildung zum Bürokaufmann in der Zentrale der Fraunhofer-Gesellschaft in München. Im Zeitraum 2011 bis 2016 war Herr Salgin als Veranstaltungskoordinator bei der Fraunhofer Gesellschaft tätig.
Von 2012 bis 2015 studierte er berufsbegleitend an der Verwaltungs- und Wirtschafts- Akademie (VWA) in München und machte dort seinen Abschluss zum Diplom Betriebswirt VWA.
Harald Groß sagt:
„Das Lernen im Mittelpunkt – nicht das Lehren“ – die Überschrift über dem Interview teile ich sehr. Und noch immer ist es leider häufig anders. Bis der „Shift from Teaching to Learning“ gelingt, ist es noch ein weiter Weg!